Auf dem Weg zur Selbständigkeit: Aktuell veröffentlichte Analyse liefert positive Prognosen für das europäische Auswilderungsprogramm mit Waldrappen
Eine heute veröffentlichte, wissenschaftliche Publikation in der Fachzeitschrift ORYX beurteilt den Erfolg eines etablierten und bekannten europäischen Wiederansiedlungsprojektes für den Waldrapp (Geronticus eremita). Wissenschaftler:innen des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) und Mitarbeiter:innen des österreichischen Unternehmens Waldrappteam Conservation and Research werteten demografische Daten von fast 400 Individuen aus 12 Jahren aus und modellierten Zukunftsszenarien. Die Population zeigt gute Überlebens- und Reproduktionsraten. Modellierungen ergeben positive zukünftige Überlebenswahrscheinlichkeiten, auch unter der Annahme von Verlusten infolge von Katastrophen. Die wieder angesiedelte Population hat somit eine gute Aussicht auf ein langfristiges Überleben, resümiert das Team.
Im Jahr 2002 begann ein kleines Team aus Wissenschaftlern und Artenschützern mit einer Machbarkeitsstudie für die Wiederansiedlung des Waldrapps in Europa. Die erfolgreiche Forschungsarbeit bildete die Basis für ein Wiederansiedlungsprojekt, das seit 2014 durch das europäische LIFE-Programm gefördert wird. Es war das erste derartige Projekt zur Wiederansiedlung einer Zugvogelart und wurde schon bald durch die beeindrucken Bilder der menschengeleiteten Migration bekannt, der wichtigsten Auswilderungsmethode des Projektes. „Waldrappküken aus dem Zuchtprogramm zoologischer Gärten bilden die Grundlage für die Wiederansiedlung. Die Küken werden von menschlichen Pflegeeltern aufgezogen und darauf trainiert, einem Ultraleichtflugzeug mit Pflegeeltern als Co-Piloten zu folgen. Auf diese Weise werden die Jungvögel im Herbst ins Überwinterungsgebiet geführt werden, wo sie ausgewildert werden“, erläutert Johannes Fritz, Leiter und Gründer von Waldrappteam Conservation and Research.
Seit Beginn des Projektes sammelte das Projektteam zahlreiche Daten über die Vögel der Population, die Sinah Drenske vom Leibniz-IZW für ihre Bachelor-Arbeit nutzte: „Wir analysierten die demografischen Daten aus 12 Jahren von 384 Individuen und beurteilen den Erfolg der Wiederansiedlung sowie die Auswirkungen der Managementmaßnahmen. Der umfassende Datensatz ermöglichte es uns außerdem, eine Analyse der Lebensfähigkeit der zukünftigen Population unter verschiedenen Managementszenarien durchzuführen“, kommentiert sie die nun veröffentlichte Arbeit.
Das Leibniz-IZW unterstützte Drenskes Forschungsarbeit. “In der Naturschutzbiologie spielt die Wiederansiedlung von Arten eine immer wichtigere Rolle, um dem anhaltenden dramatischen Rückgang der biologischen Vielfalt entgegenzuwirken“, erklärt Stephanie Kramer-Schadt, Leiterin der Abteilung für Ökologische Dynamik des Leibniz-IZW und Professorin an der Technischen Universität Berlin. „Es gibt keine allgemeine Definition für Wiederansiedlungserfolge, aber sie sollte auf jeden Fall die Wachstumsrate und Größe des Bestandes, die Fortpflanzungswahrscheinlichkeit und die Häufigkeit zufälliger katastrophaler Ereignisse in der Umwelt, wie etwa ungünstige Wetterbedingungen, berücksichtigen. Es ist zudem wichtig, die Wirksamkeit und Auswirkung von Managementmaßnahmen zu beurteilen.“
Die ausgewilderte Population, die sich seit 2011 erfolgreich fortpflanzt, umfasst derzeit etwa 200 Individuen. Bisher wuchsen 250 wilde Jungvögel in den Kolonien auf. Die Überlebensrate im ersten Jahr liegt bei 52 % für die wild geschlüpften und bei 73 % für die freigelassenen Jungvögel. Die Überlebensrate der erwachsenen Vögel beträgt 78 %. Das sind im Vergleich mit anderen Kolonien und mit der letzten Wildpopulation in Marokko gute Werte. Herausragend ist die Fortpflanzungsrate mit durchschnittlich 2,15 flüggen Jungvögeln pro Nest und einer Tendenz zu noch höheren Werten in allen Brutgebieten. Dazu Johannes Fritz: „Dieser Reproduktionserfolg liegt deutlich über den Werten der meisten wildlebenden Bestände und Zookolonien. Wir führen dies auf das reichhaltige Nahrungsangebot in den Brutgebieten zurück.“
Um die Zukunftsaussichten des Bestandes zu beurteilen, führte das Wissenschaftsteam eine Analyse der Überlebensfähigkeit der Population (Population Viability Analysis) durch. „Die Analyse ergab, dass die Population auf einem guten Weg zur Selbsterhaltung ist, dass aber für das Erreichen dieses Ziels in den nächsten Jahren noch weitere Managementmaßnahmen erforderlich sind“, fasst Sinah Drenske die Ergebnisse zusammen. Das Management soll neben der weiteren Auswilderung insbesondere eine Reduktion der durch Menschen verursachten Mortalität beinhalten. Das betrifft insbesondere die Bekämpfung der Verluste durch Stromschlag an ungesicherten Strommasten und durch illegale Vogeljagd in Italien.
In der Analyse simulierten Drenske und ihre Kolleg:innen außerdem Szenarien mit zufälligen katastrophalen Umweltereignissen unterschiedlicher Häufigkeit und Schwere – stochastischen Ereignissen, wie sie die Statstiker:innen nennen. Diese Ereignisse hatten jedoch lediglich geringe Auswirkungen auf die Entwicklung der Population. „Diese Ergebnisse zeigen, dass die derzeitige Population Umweltkatastrophen relativ gut kompensieren kann“, erklärt Drenske. Diese Erkenntnis erlangte hohe Aktualität, als im November 2022 ein Orkan 27 Waldrappen in nur einer Nacht das Leben kostete.
Eine gründlichere Beurteilung der Auswirkungen des Klimawandels wäre eine wichtige Erweiterung der Modellierungen, denn die Population ist zunehmend von den sich ändernden Wetterbedingungen betroffen. So verzögert sich der Beginn des Herbstzugs sukzessive, was wahrscheinlich auf die zunehmend milderen Temperaturen im Spätherbst zurückzuführen ist. Infolgedessen haben die Vögel immer größere Probleme die Alpen zu überqueren, vermutlich mangels unterstützender Thermik. „Die Berücksichtigung der Auswirkungen des Klimawandels bei der Beurteilung und Planung von Artenschutzprojekten wird in Zukunft von entscheidender Bedeutung für deren Erfolg sein“ resümiert Johannes Fritz.
Quelle: Waldrappteam
Bildquelle: (c)Waldrappteam Conservation & Research - Johannes Fritz, (c)Waldrappteam - Conservation Research Johannes Fritz, (c)Waldrappteam - Conservation Research Helena Wehner, (c)Waldrappteam - Conservation Research Stephanie Kramer Schadt