Im November 2021 wurden im Revier Unter-Schönmattenwag im Rotwildgebiet Odenwald ein Kalb und sein Muttertier erlegt. Das Alttier hatte einen verkürzten Unterkiefer – ein Kennzeichen für Inzucht, das aktuell auch in anderen kleinen Rotwildgebieten Deutschlands bei Rothirschen festgestellt wird. Deshalb hat die zuständige Hegegemeinschaft Gewebeproben an ein Forschungsinstitut geschickt. Das Ergebnis ist besorgniserregend: Zwar liege der Inzuchtgrad mit 37,5 Prozent nicht extrem hoch, sondern eher mit mittleren Bereich des Gebietes, lässt die Hegegemeinschaft wissen. Aber die Wahrscheinlichkeit für eine solche Missbildung steigt auch mit der zunehmenden Verbreitung der defekten Gene in der Population. Das bedeutet unter Umständen, dass viele Tiere in der Region bereits genetische Schwächen aufweisen.
Dabei ist ein sichtbares Zeichen, wie ein verkürzter Unterkiefer, nur die Spitze des Eisberges. In mehreren Forschungsprojekten wurde die genetische Vielfalt von Rotwildpopulationen untersucht. Fakt ist: In vielen Regionen Deutschlands und vor allem dort, wo sogenannte “Rotwild-freie” Gebiete vorherrschen, sind die einzelnen Populationen isoliert und verlieren akut an genetischer Vielfalt. Eine unmittelbare Folge solcher Verinselung und Verarmung sind eine schwindende Fortpflanzungsrate und steigende Krankheitsanfälligkeit. Beides Effekte, die man nicht sofort mit bloßem Auge sehen kann!
Die Wissenschaftler warnen deshalb, dass derart von Isolierung und Inzucht betroffene Populationen auch akut oder mittelfristig vom Aussterben bedroht sind.
Denn wenn die Tiere eines Rudels kaum “frische” Partner zur Fortpflanzung finden, werden immer häufiger ähnliche Genvarianten, auch schädliche, miteinander kombiniert. Dann können Krankheiten und Missbildungen immer öfter zu Tage treten. Neues Blut und andere Erbanlagen tragen meist die wandernden jungen und mittelalten Hirsche in einen Bestand.
Der verkürzte Unterkiefer bei der Hirschkuh aus dem Odenwald, dem kleinsten bayerischen Rotwildgebiet, ist ein Zeichen einer akuten Bedrohung dieser Population. Hier muss eigentlich dringend Abhilfe geschaffen werden und der Zuzug wandernder Hirsche aus dem Spessart, den Hassbergen oder Baden-Württemberg ermöglicht werden. Alles andere wäre auch nicht legal!
Bildquelle: (c)Wildes Bayern - privat