Leider erreichen uns nicht nur aus Bayern, sondern auch aus Baden-Württemberg Nachrichten, bei denen man den Kopf schütteln möchte, bis der Arzt kommt. Denn ähnlich wie beim Auerwild in Bayern setzt auch unser Nachbarland beim Rotwild einfach mal auf Zeit, wenn es darum geht, der zunehmenden Inzucht zu begegnen. Ganz zu schweigen von der Qualität der “fachlichen” Vorschläge. So hat Baden-Württembergs Minister für Ländlichen Raum, Peter Hauk, CDU, mitgeteilt, dass er nicht plant, die Rotwildgebiete im Land aufzulösen, schließlich hätten sie sich bewährt. Statt dessen will er zur genetischen Auffrischung der Populationen offenbar jetzt Tiertransporte einsetzen.
Zur Erinnerung: Die Rotwildgebiete in Baden-Württemberg umfassen gerade mal 4 Prozent der Landesfläche. Schon vor rund 15 Jahren hatte die Forstliche Versuchsanstalt in einer Genetikstudie festgestellt, dass das Rotwild mittelfristig an Inzuchtschäden leiden wird: “Der genetische Austausch zwischen den Rotwildgebieten Baden-Württembergs wurde von der FVA zwischen 2004 und 2007 zum ersten Mal untersucht und als vorhanden, aber mittelfristig nicht ausreichend eingestuft”, heißt es aktuell in einer Projektbeschreibung zum “Rotwild in Baden-Württemberg”.
Jetzt wurde diese Frage nochmal überprüft. Was heraus kam, dazu berief das Ministerium am 6. Juni sehr kurzfristig ein “Rotwildsymposium” ein – um anschließend zu verkünden, dass man den Handlungsbedarf zwar sehe und diesem mit einem “Bündel an Maßnahmen” begegnen wolle, aber eigentlich doch an der bestehenden Situation festhalten will.
Und so kommt man mit Vorschlägen, die wohl niemand wollen kann: “Eine der größten Herausforderungen für ein dicht besiedeltes Land wie Baden-Württemberg, mit hoher Infrastrukturdichte, ist einen genetischen Austausch zwischen den Rotwildgebieten zu erreichen. Dies kann zum Beispiel gelingen, indem Rotwild zwischen den Gebieten verbracht wird.”
Bei uns vom Wilden Bayern schrillen da die Alarmglocken, denn Rotwild reagiert äußerst empfindlich auf Fang, Narkose und anschließendes Wiederauslassen. Nicht selten kommt es bei solchen Projekten zu Todesfällen unter den betroffenen Tieren. Aber Minister Hauk sieht offenbar keine andere Möglichkeit, denn: “Die Auflösung der Rotwildgebiete in Baden-Württemberg wäre keine Lösung, weil sich damit das Problem der genetischen Verarmung nicht lösen lässt” – glaubt er wirklich, was er da sagt? Seine persönliche Wahrheit steckt wohl vielmehr im nächsten Satz: “Zudem wären die zu erwartenden Schäden und Ausfälle in Feld und Wald, vor dem Hintergrund der Ernährungssicherung und dem Aufbau klimaresilienter Mischwälder, den Menschen aber auch den Landwirten und Waldbesitzern in Baden-Württemberg nicht zuzumuten.“ Und deshalb will man zur Bekämpfung der Inzucht beim Rotwild auch das Schadensmonitoring erhalten und sicherstellen, dass in den Hegegemeinschaften die Grundeigentümer mit am Tisch sitzen. Das nennen wir aber mal einen Doppelwumms!
Die vollständige Pressemeldung zum Rotwildsymposium könnt Ihr hier als pdf herunterladen…
Hier findet Ihr die Stellungnahme des Landesjagdverbands Baden-Württemberg zum Thema
Und das hier sagt die Deutsche Wildtierstiftung zum Thema:
(…) Bei der aktuellen Präsentation der Ergebnisse des Projekts “Rotwild in Baden- Württemberg” vom Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz am 6. Juni 2023 in Karlsruhe wurde nun deutlich, dass die Isolation der Tierart bereits stark negative Auswirkungen auf ihre genetische Vielfalt hat: Innerhalb der wenigen Populationen gehen durch Inzucht immer mehr genetische Anlagen verloren und zwischen den Populationen gibt es nur einen sehr geringen Austausch. Die Lage ist so dramatisch, dass Populationsgenetiker von dem Beginn eines Aussterbeprozesses sprechen. Umso verwunderlicher sind die ersten Reaktionen des zuständigen Forstministers Peter Hauk auf die eindeutigen Ergebnisse seiner hauseigenen Forschungsanstalt: In einer Pressemeldung schlug er als einzige konkrete Maßnahme das künstliche Verbringen von Rotwild zwischen den Gebieten vor.
“Die Reaktion des Ministers ist erschreckend. Sie zeigt, wie wenig Sachkenntnis bei denen vorhanden ist, in deren Händen die Zukunft des Rotwilds in Baden-Württemberg liegt”, kritisiert Dr. Andreas Kinser, Leiter Natur- und Artenschutz der Deutschen Wildtier Stiftung. Das Umsiedeln einzelner Individuen in genetisch verarmte Populationen wird von Wildbiologen abgelehnt, weil niemand weiß, welche Gene man so verbreitet und weil es das Problem nachhaltig nicht löst. Sie plädieren stattdessen für eine Stärkung des Lebensraumverbundes und die Auflösung der sogenannten Rotwildbezirke, wie sie in Baden-Württemberg seit 1958 existieren.
Das Festhalten an den Rotwildbezirken begründet der Minister indes mit der Ernährungssicherung – also dem Verhindern von Rotwildschaden in Getreidefeldern – und dem Aufbau klimafitter Mischwälder. Dabei ignoriert er freilich, dass auch in den Bundesländern, in denen sich das Rotwild wie jede andere Tierart auch seinen Lebensraum selbst suchen darf, die Menschen zum Glück ebenso wenig hungern müssen wie in Baden-Württemberg; und auch dort erfolgreich Waldumbau betrieben wird.
Die Deutsche Wildtier Stiftung hat sich in den Jahren 2019 und 2020 mit einer Kampagne für mehr Lebensraum für den Rothirsch in Baden-Württemberg eingesetzt und bei einer Online-Petition über 40.000 Unterschriften gesammelt. Vor dem Hintergrund der nun vorgestellten Ergebnisse fordert die Stiftung erneut, kurzfristig außerhalb der bestehenden Rotwildgebiete grundsätzlich alle männlichen, mindestens 1-jährigen Rothirsche zu schonen, damit ein Genfluss zwischen den Populationen wieder ermöglicht wird. “Mittelfristig muss es in Baden-Württemberg endlich eine klare politische Agenda für mehr Rotwild-Lebensraum geben”, so Andreas Kinser
Ein Positionspapier der Deutschen Wildtier Stiftung zur Weiterentwicklung des Rotwildmanagements in Baden-Württemberg finden Sie hier: https://bit.ly/Rotwild_BaWue.