Es gibt Fotos, die nicht nur Tierarten, sondern vermeintlich ihre ganze ökologische Situation in einem einzigen Blick einfangen. Der Eisbär auf einer schmelzenden Scholle ist hier sicher das Paradebeispiel dafür. Solche Fotos bewegen, inspirieren, und sie gelten als Fenster in die Wildnis.
Doch was, wenn diese Fenster nicht den ganzen Raum zeigen, sondern nur die glänzendsten Ausschnitte? Eine neue Studie, die mehr als 1.300 Fotos des Wettbewerbs „Wildlife Photographer of the Year (WPOTY)“ aus den Jahren 2010 bis 2023 analysierte, kommt zu dem Ergebnis: Selbst unsere ästhetischsten Blicke auf die Natur zeichnen nur einen Teil des ökologischen Ganzen.
Blick durch die Linse, aber wohin?
Die Forschenden vom spanischen CSIC-Institut für Naturschutzbiologie werteten 1.333 prämierte Bilder aus. Jedes Foto wurde einer Art, einem Lebensraum (Biom) und einem geografischen Ort zugeordnet und die Art in einen Gefährdungsstatus eingestuft. Ziel war es, zu verstehen, welche Teile der biologischen Vielfalt in den letzten 13 Jahren „sichtbar“ gemacht wurden und welche im Verborgenen blieben. Die Ergebnisse: Fast 40 Prozent aller Aufnahmen stammten aus Europa, während tropische Regionen, die den Großteil der globalen Artenvielfalt beherbergen, kaum vorkamen. Genau dort aber, in den Regenwäldern Amazoniens, den Mangroven Südostasiens oder den Savannen Afrikas, ist das Herz der planetaren Biodiversität zuhause.
Die Ökologie der Sichtbarkeit
WPOTY-Bilder sollten nach Ansicht der Wissenschaftler mehr als Kunst sein. Sie bewerteten sie als Indikatoren dessen, wie Gesellschaft Natur wahrnimmt. Doch unter dieser Prämisse zeigte die Studie ein ökologisches Paradoxon: Unsere visuelle Aufmerksamkeit konzentriert sich demnach auf Landschaften, die zwar fotogen, aber ökologisch vergleichsweise artenarm sind. In der Sprache der Ökologie könnte man sagen: Wir beobachten die „Apex-Predatoren“ des Bildermarkts, große Säuger, Raubtiere, vertraute Vögel, und lassen zum Beispiel die Basis der Nahrungspyramide unbeachtet. Insekten, Pflanzen oder Amphibien, die zentrale Funktionen im Nährstoffkreislauf oder in der Bestäubung erfüllen, tauchen selten auf. Diese Verzerrung spiegelt sich auch in der realen Forschung und im Naturschutzbudget wider: Das, was wir sehen und bewundern, ist oft das, was wir schließlich finanzieren.
Was Biome erzählen, und was wir überhören
Interessant ist auch, welche Lebensräume im Wettbewerb dominierten, nämlich gemäßigte Laub- und Mischwälder, mediterrane Zonen und Regenwälder. Unterrepräsentiert blieben Biome wie Wüsten, Tundra und Borealwälder, Lebensräume mit extremen klimatischen Bedingungen, die oft schwer zugänglich und fotografisch anspruchsvoll sind. Doch gerade dort spielen sich ja einzigartige ökologische Prozesse ab: Migrationen von Zugvögeln, Anpassungsstrategien an Frost oder Trockenheit, Symbiosen, die das Überleben in lebensfeindlichen Umgebungen sichern. Wenn solche Systeme kaum fotografisch gezeigt werden, wird auch ihre ökologische Bedeutung unsichtbar – sowohl für die Öffentlichkeit als auch für politische Entscheidungsträger.
Die Biologie der Gewinner
Ein weiteres zentrales Ergebnis der Studie betrifft den Gefährdungsstatus der fotografierten Arten. Arten, die als „kritisch gefährdet“ gelten, waren leicht überrepräsentiert – vermutlich, weil sie visuell dramatisch wirken. Arten mit dem Status „Datenmangel“ dagegen, also solche, über die kaum Informationen existieren, tauchten fast gar nicht auf. In der Wildtierökologie spricht man hier von „sozialer Auslöschung“, dem Prozess, bei dem eine Art aus unserem kollektiven Gedächtnis verschwindet, lange bevor sie biologisch ausstirbt. Wenn eine Art in Medien, Forschung und Kunst nicht vorkommt, sinken ihre gesellschaftliche Relevanz und damit auch die Chance auf Schutzmaßnahmen.
Farbe, Emotion, Empathie – warum manche Bilder gewinnen
Die statistische Modellierung zeigte: Fotos mit auffälligen Farben, klaren Kontrasten oder emotionalen Momenten, wie etwa mütterlicher Fürsorge, hatten signifikant höhere Gewinnchancen. Das sagt weniger über die fotografierte Art aus als über uns Menschen: Wir reagieren stärker auf Gesichter, auf Augen, auf das, was uns ähnlich scheint. Ökologisch marginale, aber evolutionär faszinierende Gruppen, etwa Spinnen, Käfer oder Seeanemonen, bleiben dabei oft unbeachtet. Hier trifft Ästhetik auf Anthropozentrismus: Wir feiern das Wilde, solange es uns vertraut erscheint.
Wildtierfotografie zwischen Faszination und Verantwortung
Die Studie betont, dass Fotografie ein kraftvolles Werkzeug des Naturschutzes sei. Bilder können Bildungsprozesse anstoßen, Empathie fördern und das Verständnis für ökologische Zusammenhänge vertiefen. Doch sie können ebenso ungewollte Schäden verursachen, etwa wenn seltene Arten durch mediale Aufmerksamkeit unter Druck geraten oder sensible Lebensräume durch Tourismus beeinträchtigt werden. Ökologisch betrachtet, sollte Wildtierfotografie also immer auch Habitatfotografie sein: Nicht nur das Tier, sondern auch sein Netzwerk, seine Beute, seine Fressfeinde und seine Pflanzenwelt sollten sichtbar werden.
Ein ausgewogener Blick auf die Wildnis
In den letzten Jahren zeichnete sich aus Sicht der Forscher immerhin eine leichte Verbesserung ab: Insekten und marinen Lebensräumen wurde zunehmend mehr Raum gegeben. Vielleicht ist das ein Zeichen eines wachsenden ökologischen Bewusstseins einer Bewegung hin zu einem „ökologischen Realismus“ in der Naturfotografie.
EK
Eine PDF-Datei der vollständigen Studie in englischer Sprache können Sie hier herunterladen
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